07.11.2000 Bern

“Bosnien und Herzegowina – Stärkung des Staates als Basis wirtschaftlichen Fortschritts” 5. Jahreskonferenz Focus Osteuropa

Anrede,

Bosnien und Herzegowina wird oft nur als Quelle schlechter Nachrichten, als hoffnungsloser Fall ohne Aussicht auf rasche Besserung, gesehen. Um so mehr freut es mich, daß die Schweizerische Politik und Wirtschaft diesem Land eine ganze Konferenz widmet.

Es ist mir klar, daß sich Bosnien und Herzegowina spätestens seit dem Kosovo-Konflikt aber mehr noch seit den durchgreifenden Veränderungen in Kroatien und seit der friedlichen Revolution vom 5. Oktober in Belgrad nicht mehr der ungeteilten Aufmerksamkeit der Internationalen Gemeinschaft erfreut. Lange war Bosnien und Herzegowina ein Land, das so etwas wie einen Demokratisierungsvorposten der Internationalen Gemeinschaft in dem ethnisch und territorial verkrusteten Umfeld seiner Nachbarn Kroatien und Bundesrepublik Jugoslawien darstellte.

Es ist bald 10 Jahre her, seit die Konflikte um den Zerfall des alten Jugoslawien ihren blutigen Anfang nahmen. Umso phantastischer muten die letzten 10 Monate an, die sowohl in Kroatien wie auch in Jugoslawien einen demokratischen Paradigmenwechsel hervorgebracht haben. Mit dem alters- und gesundheitsbedingten vorzeitigen Rücktritt von Präsident Alija Izetbegovic, Mitte Oktober, sind innerhalb von weniger als einem Jahr alle drei Protagonisten des Krieges in Bosnien und Herzegowina von der politischen Bühne abgetreten.

Nur, wo steht Bosnien und Herzegowina in diesem plötzlich veränderten Umfeld? Es ist in all der Hochstimmung um die Veränderungen jenseits von Drina und Save frustrierend festzustellen, daß sich das international mit viel Aufmerksamkeit und Engagement bedachte Bosnien und Herzegowina nicht entschieden genug von seiner Vergangenheit zu lösen scheint. Keine Spur von Aufbruchstimmung in Bosnien und Herzegowina. Statt friedlicher Revolution, die die alten nationalistischen Parteien hinwegfegt, zähes Ringen um den ethnische Vorteil.

Aber genau darin liegt der Unterschied zwischen Bosnien und Herzegowina und den beiden Nachbarländern. Ich möchte davor warnen, daß die Internationale Gemeinschaft die Entwicklungsfähigkeit Bosnien und Herzegowinas mit jener Kroatiens und Jugoslawiens vergleicht und entsprechende Anforderungen an das Land stellt.

Es ist zwar richtig, daß wir alle gehofft haben, die Probleme Bosnien und Herzegowinas leichter lösen zu können, wenn sich die politische Situation in Kroatien und Jugoslawien ändert. Aber Bosnien und Herzegowina ist ein Problem besonderer Art, ein Land, das sich ausgelöst durch den furchtbaren, menschenverachtenden Krieg immer noch durch ethnische Abgrenzung und Mißtrauen gegenüber der jeweiligen anderen Volksgruppe bestimmt. Erwarten Sie also keine schnelle Wende. Denken Sie daran, daß für Bosnien und Herzegowina ein Friedensvertrag mit den drei Kriegsparteien, die heute immer noch an der Macht sind, geschlossen wurde. Das geschah damals im Interesse der raschen Beendigung des Blutvergießens. Wenigstens zwei dieser ehemaligen Kriegsparteien bekennen sich letztlich nach wie vor nicht zu einem demokratischen Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina.

Meine Arbeit in Bosnien kann daher immens frustrierend sein und ist es auch immer wieder. Aber ich würde nicht vor Ihnen stehen, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß das Land eine Zukunft in Europa hat. Ich glaube, daß viele von Ihnen diese Zukunft mit-beeinflussen können, in dem sie das Land besuchen oder dort investieren, ob in Sarajewo oder anderswo im Lande.

Wir, die internationale Gemeinschaft, erleben in Bosnien gerade, was Bertold Brecht die Mühen der Ebene genannt hat. Im Rückblick auf die immensen Hindernisse, die wir seit dem Krieg überwunden haben, finde ich jedenfalls die Rechtfertigung für mein eigenes Engagement, aber auch das der Internationalen Gemeinschaft insgesamt.

Außerdem bin ich davon überzeugt, daß wir fünf Jahre nachdem das Daytoner Friedensabkommen unterschrieben wurde, in Bosnien und Herzegowina eine erfolgversprechende Strategie sowie die nötigen Instrumente besitzen, sie umzusetzen.

Bevor ich auf die Einzelheiten dieser Strategie eingehe, lassen Sie mich kurz die Ausgangslage schildern:

Der Vertrag von Dayton, dessen Paraphierung sich in wenigen Tagen zum fünften Mal jährt, markierte das Ende einer europäischen Tragödie, die Elemente eines Agressionskriegs mit jenen eines Bürgerkriegs vereinte. Nach Schätzungen waren über 200.000 Menschen getötet worden, fast die Hälfte der Bevölkerung, rund 2,1 Millionen der ursprünglich 4,5 Millionen Einwohner, waren aus ihrer Heimat geflohen oder vertrieben worden, viele von ihnen ins Ausland, auch in die Schweiz.

Der Frieden kam erst nach schwierigen Verhandlungen und unter erheblichem internationalen militärischen Druck zustande. Er sah den Fortbestand des Staates Bosnien und Herzegowina vor, aber das Land war in zwei sogenannte Entitäten mit hoher Autonomie aufgeteilt: die bosniakisch-kroatische Föderation und die Serbische Republik.

Nach Abschluß des Friedensvertrags wurden 60.000 NATO-geführte Truppen in Bosnien und Herzegowina stationiert, heute sind es noch rund 20.000. Sie sind für die militärische Befriedung des Landes zuständig. Der Hohe Repräsentant, dessen Amt in Dayton geschaffen wurde, ist laut Annex 10 die höchste Instanz in der Umsetzung (“final authority in theatre”) der zivilen Bestimmungen des Vertrags.

Im ersten Friedensjahr, 1996, kam die Umsetzung der Vereinbarungen von Dayton nur mühsam voran. Die Worte des Hohen Repräsentanten, damals der frühere schwedische Premierminister Carl Bildt, sowie Verweise auf das Abkommen verhallten größtenteils unbeachtet, und die Sanktionen, die er beispielsweise über die Republika Srpska verhängte, störten die dortigen Machthaber nicht, da sie ohnehin eine Isolationspolitik betreiben wollten, und die sich im übrigen aus illegalen Quellen finanzierte.

Der wirtschaftliche Wiederaufbau – in den beiden ersten Jahren mit dem regionalen Schwerpunkt Föderation – begann jedoch recht zügig. Die Weltbank und die Europäische Kommission erarbeiteten ein Wiederaufbauprogramm, das Mittel in Höhe von 5,1 Milliarden Dollar im Laufe von vier Jahren vorsah. Damit wurde vor allem die Infrastruktur des Landes wiederhergestellt.

Ein weiterer, politisch wichtiger Meilenstein war die Konferenz des Friedensimplementierungsrates in Bonn im Dezember 1997. Dieser Rat besteht aus den 55 Regierungen und internationalen Organisationen, die den Friedensprozeß in BiH lenken und unterstützen. In Bonn wurde der Hohe Repräsentant damit beauftragt, bosnisch-herzegowinische Politiker und öffentliche Funktionsträger aus ihren Ämtern zu entfernen, wenn sie gegen die Bestimmungen des Daytoner Abkommens verstoßen. Außerdem wurde er ermächtigt, selbst “Entscheidungen” mit Gesetzeskraft zu verfügen, wenn die gesetzgebenden Organe ihren Pflichten nicht nachkommen.

Das gab dem Friedensprozeß neuen Schwung. Mit Hilfe dieser weitreichenden Vollmachten wurden längst überfällige Gesetze verabschiedet, z.B. neutrale Autokennzeichen eingeführt, die schließlich zu völliger Bewegungsfreiheit in Bosnien und Herzegowina geführt haben. Und es wurde eine einheitliche, stabile Währung, die Konvertibile Mark, geschaffen.

Längerfristig hat die Nutzung der Vollmachten allerdings zu einem Abhängigkeitssyndrom geführt. Die einheimischen Parteien verlassen sich in opportunistischer Weise zu sehr auf die politischen Interventionen des Hohen Repräsentanten. Sie können sich, wiewohl in der Regierung, gleichzeitig als Opposition gerieren und die vorgeblich ethnisch-nationalistischen Ziele kompromißlos verteidigen. Die Internationale Gemeinschaft wurde immer tiefer auch in die kleinsten Probleme hineingezogen.

Nicht zu vergessen ist, daß Bosnien und Herzegowina natürlich auch an all den anderen Problemen leidet, an denen postkommunistische Gesellschaften laborieren: den meisten Politikern fehlt ganz einfach Verantwortungs- und Demokratiebewußtsein, und die Masse der Bürger ist politisch unmündig, fühlt sich machtlos und dem Staatsapparat ausgeliefert. Der in Osteuropa bereits vor zehn Jahren initiierte gesellschaftliche Transformationsprozeß wurde in Bosnien und Herzegowina durch den Krieg 1992-95 gleichsam “konserviert” und befindet sich nach der Phase des Wiederaufbaus erst in seinen Anfängen.

Trotz alledem hat es seit Kriegsende enorme Fortschritte gegeben, sicherlich vor allem dank des großen Engagements der Internationalen Gemeinschaft. Zudem ist aber zu spüren, daß die Bevölkerung immer weniger an nationalistischer Rhetorik interessiert ist, sondern Antworten auf die dringenden Fragen des Alltags sucht: Arbeitsplätze, Entlohnung, Ausbildungschancen für die Kinder, regelmäßige Rentenzahlungen.

Mit diesen Fortschritten und der vermeintlichen Stabilität geht ein erlahmendes Interesse der Geberländer einher. Die drastische Reduzierung der Hilfsgelder hat freilich noch andere Ursachen. Der Friedensprozeß hat schon eine beträchtliche Zeit in Anspruch genommen, nun muß neben dem Kosovo auch Serbien wiederaufgebaut werden. Bosnien und Herzegowinas Anteil am zu verteilenden internationalen Kuchen wird kleiner, ohne daß der Staat, anders als seine Nachbarn Kroatien und Jugoslawien, auf absehbare Zeit allein lebensfähig wäre.

Dies war die Ausgangssituation als im August letzten Jahres meine Ernennung zum Hohen Repräsentanten vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bestätigt wurde.

Und es war Zeit für eine Neubewertung.

Mir war bei meiner Amtsübernahme bewußt, daß die Internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen kritisch evaluieren und auf bestimmte, wesentliche Schwerpunktbereiche konzentrieren muß – auf strukturelle Probleme, deren erfolgreiche Bewältigung jene für Bosnien und Herzegowina notwendigen Entwicklungen in Gang setzen und vier Jahre nach Dayton endlich die Rahmenbedingungen für einen europäisch-orientierten Rechtsstaat schaffen kann.

Voraussetzung für die Umsetzung dieses Konzeptes ist die Übernahme von Eigenverantwortung durch die politische Elite und vor allem die Bürger. Sie müssen sich endlich – meinte ich damals – mit ihrem Land und seinen Problemen zu identifizieren beginnen, von ihnen sozusagen “Besitz” ergreifen, und konstruktiv und vor allem gemeinsam nach Lösungen suchen. “Ownership” ist der dafür in der anglo-amerikanischen Gesellschaftstheorie gebräuchliche Begriff.

Aber eines war mir damals schon klar: Das Erlernen eigenverantwortlichen Handelns für die Zivilgesellschaft wird gerade unter den in Bosnien vorherrschenden Bedingungen ein langwieriger Prozeß sein. Allerdings haben wir als Internationale Gemeinschaft die Möglichkeit, über strukturelle Reformen die Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Politiker zu Verantwortungsbewußtsein anhalten – ihnen einfach nicht gestatten, ihre verantwortungslose Politik weiter zu betreiben; Bedingungen, die auf der Seite der Bürger mündiges Handeln fördern, wobei als wichtigste Kontrollinstanz eine funktionierende Justiz gelten kann.

Obwohl mir die Problematik der “Vollmachten des Hohen Repräsentanten” bewußt ist, habe ich sie im vergangenen Jahr energisch genutzt; jedoch nur, wenn ich damit gleichzeitig auch einen strategischen Fortschritt erzielen konnte. Ich habe wichtige Gesetze verfügt; institutionelle Reformen vorangetrieben, um Organe aufzubauen, die diese Gesetze umsetzen und Verstöße gegen sie ahnden; und, ich habe, wenn nötig, Politiker aus ihren Ämtern entfernt, die sich der Demokratisierung und rascheren Entwicklung Bosnien und Herzegowinas widersetzt haben.

In den Monaten nach meinem Amtsantritt habe ich gemeinsam mit meinen Mitarbeitern eine Strategie ausgearbeitet, die sich auf strukturelle Reformen in folgenden drei Schwerpunktbereichen konzentriert: Wirtschaftsreformen, Flüchtlingsrückkehr und eine Stärkung der zentralstaatlichen Organe. Hinzu kommen die Reform des Rechtswesens, die ich weiter intensiviere und die Aktivitäten im Bereich des Bildungswesens, die wegen anderer vorrangiger Aufgaben lange zurückstehen mußten. Im Mai dieses Jahres wurden diese Prioritäten vom Friedensimplementierungsrat bei seinem Treffen in Brüssel angenommen, sie stellen damit unser Arbeitsprogramm für die nächsten zwei Jahre dar.

Was ist bisher erreicht worden?

Zunächst zur zentralen Aufgabe des Daytoner Friedensvertrags: Umkehrung der “ethnischen Säuberungen” durch Flüchtlingsrückkehr. Das Kernproblem ist die Rückkehr von Angehörigen einer Volksgruppe in Gebiete, die nun von einer der beiden anderen Volksgruppen kontrolliert werden. Diese Rückkehr wird “Minderheitenrückkehr” genannt.

Bis zum Sommer 1999 hatte es nur 90.000 Minderheitenrückkehrer gegeben. Zu dem Zeitpunkt gab es laut Angaben des UNHCRs innerhalb Bosnien und Herzegowinas noch mehr als 800.000 Vertriebene, weitere 350.000 Flüchtlinge warteten im Ausland darauf, nachhause zurückkehren zu können. Das war natürlich vier Jahre nach Kriegsende, wobei viele schon seit 1992 vertrieben waren, absolut nicht akzeptabel.

Ich habe daher im Herbst letzten Jahres die gesetzlichen Grundlagen für die Rückgabe von Eigentum so geregelt und vereinheitlicht, daß den Behörden jetzt keine Schlupflöcher mehr bleiben, um die Flüchtlingsrückkehr zu blockieren. Die Vertriebenen bekommen ihre Immobilien zurück. Außerdem habe ich im letzten Jahr (- und auch jüngst wieder-) einen ganze Reihe von Beamten und Politikern aus ihren Ämtern entfernt, die gegen die Flüchtlingsrückkehr gearbeitet haben.

Bisher gibt uns der Erfolg recht. Die Rückkehrerzahlen haben sich im Vergleich zur Vorjahresperiode verdreifacht. Wenn der Trend so weitergeht, könnte dieses zentrale Problem des Krieges in zwei bis drei Jahren weitgehend gelöst sein. Damit wäre der entscheidende Beitrag zur Befriedung dieses devastierten Landes geleistet.

Durch die strikte Umsetzung der Eigentums- und Rückkehrrechte machen die Bürger Bosnien und Herzegowinas erstmals die Erfahrung, daß individuelle Rechte einen Wert darstellen, weil sie tatsächlich verwirklicht werden können. Das wird ihr Selbstverständnis stärken und sie in die Lage versetzen, auf die Verwirklichung auch anderer individueller Rechte zu bestehen. Zudem führt der Prozeß ihnen wie auch den lokalen Amtsträgern vor Augen, daß der Staat im Dienste der Bürger zu stehen hat, und nicht umgekehrt. Auch das ist eine Erfahrung, die in Bosnien und Herzegowina neu ist. Und der Prozeß untergräbt zudem das auch in Bosnien und Herzegowina vorherrschende ethno-zentrierte, kollektivistische Denken.

Größtes Sorgenkind bleiben die gesamtstaatlichen Institutionen: die dreiköpfige Präsidentschaft, das Staatsparlament und der sogenannte Ministerrat, die Regierung. Sie sind zwar alle gemäß der Verfassung von Dayton geschaffen worden. Demgemäß sind in diesen Gremien die drei Volksgruppen paritätisch vertreten und haben Veto-Rechte. Die Ämter in der Präsidentschaft, im Ministerrat sowie im Staatsparlament werden bisher hauptsächlich von den Parteigängern der nationalistischen Parteien besetzt. Die Organe sind oft in sich zerstritten und daher entscheidungsunfähig, da keine Seite kompromißbereit ist.

Doch Bosnien und Herzegowina muß als Staat zu funktionieren beginnen, um, nach außen hin, in internationalen Beziehungen und Handel im besonderen auftreten zu können, und, nach innen, seinen Bürgern wirkliche Dienste anbieten zu können. Viel Macht – manche meinen zu viel – liegt bei den Entitäten, aber der Staat hat trotzdem bestimmte Funktionen zu erfüllen, denen er bisher nur unzulänglich nachgekommen ist.

Eine auf Verständigung über das Gemeinwohl ausgerichtete Politik ist so nicht möglich. Das spüren langsam auch die Bürger des Landes, das wissen moderate politische Kräfte und orientieren ihre Programme danach. Langsam bilden sich neue politische und zivilgesellschaftliche Gruppierungen. Es gibt überhaupt nur eine bedeutende Partei, die sich als multiethnische Partei für ganz Bosnien und Herzegowina versteht: die sozialdemokratische SDP. Die meisten anderen Parteien gründen ihr Selbstverständnis auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, deren Interessen sie vorgeben exklusiv zu vertreten.

Vor diesem Hintergrund habe ich in den letzten 15 Monaten ein institutionelles Rahmenwerk propagiert, das in immer rascheren Schritten auf die Stärkung des Gesamtstaates abzielt: seit Anfang des Jahres wird ein Staatsgrenzschutz aufgebaut, der auf erbitterten Widerstand serbischer Abgeordneter stieß, weil sie die RS in ihren vermeintlich souveränen Rechten berührt sehen. Parteigesteuerte und ethnisch ausgerichtete Rundfunk- und Fernsehsender werden geschlossen und nun durch ein öffentlich-rechtliches System ersetzt, das das gesamte Land abdeckt. Ein einheitlicher Paß ohne Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit des Inhabers wurde von mir erst kürzlich eingeführt. Lange habe ich für ein zentrales Finanzministerium gekämpft, es ist schließlich im Sommer eingerichtet worden. Bislang freilich verwaltet es keine eigenen Einnahmequellen des Staates, sondern hängt noch am Tropf der Entitäten. Hier müssen noch Strukturänderungen vorgenommen und staatliche Einnahmequellen identifiziert werden. Wichtige Weichenstellungen und Rahmengesetze im Bereich der Justizreform, der Wirtschaftsreform und Privatisierung sind in Angriff genommen worden. Sie alle zielen auf die Stärkung der Gesamtstaatsebene ab. Darauf werde ich gleich noch ausführlicher eingehen.

Auch bei Ausbau und Stärkung der Staatsorgane machen wir Fortschritte. Der unabhängige Verfassungsgerichtshof hat schon folgenschwere Entscheidungen getroffen, die Schaffung eines Verwaltungsgerichtshofs ist in Vorbereitung. Dieser Gerichtshof wird für die steigende Anzahl von Gesetzen, die, gemäß der Verfassung von Bosnien und Herzegovina auf Gesamtstaatsebene erlassen werden, Schutz gewährleisten. Damit rückt das bosnische Rechtssystem einen Schritt näher an die Regeln der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Bestandteil dieser bosnischen Verfassung ist und Vorrang vor allen anderen Gesetzen genießt.

All diese Projekte ließen sich freilich schneller verwirklichen, wenn die Entscheidungsträger des Landes den politischen Willen zur Stärkung des Gesamtstaates aufbringen würden. Es wird bei den am kommenden Samstag stattfindenden Wahlen zwar nicht zu einem erdrutschartigen Sieg der Vernünftigen und Einsichtigen kommen, eine Trendwende war aber schon nach den Kommunalwahlen im April spürbar. Die nationalistischen Parteien kämpfen wie die kroatische HDZ und die bosniakische SDA um ihren parteipolitischen Einfluß und damit um die zu verteilenden Pfründe, während die serbische SDS, gegründet von Karadzic, alle Anstrengungen unternimmt, um politisch wieder mitspielen zu können. Sie ist aber vorgewarnt durch den Ausschluß der Serbischen Radikalen Partei SRS im Frühjahr dieses Jahres sowie durch die Amtsenthebung des früheren Präsidenten der RS im Vorjahr durch meinen Amtsvorgänger Carlos Westendorp. Die SDS wird auch vor dem Hintergrund der Veränderungen in Jugoslawien vorsichtiger taktieren, meine ich. Es bleibt aber abzuwarten und bedingt ein großes Maß an Skepsis und politischer Aufmerksamkeit, inwieweit die SDS eine tatsächlich demokratische und Dayton-konforme Partei geworden ist.

Ich möchte nun konkreter auf die Bemühungen um die Reform der Wirtschaft und die Schaffung der Grundlagen für eine dauerhafte wirtschaftliche Entwicklung in Bosnien und Herzegowina eingehen.

Die Transformation von einer “Planwirtschaft jugoslawischen Zuschnitts” zu einem marktwirtschaftlichen System wurde in Bosnien und Herzegowina im Vergleich zu anderen ost- und südosteuropäischen Staaten – ich habe es bereits erwähnt – mit großer Verspätung angegangen. Der Krieg wirkte wie ein Konservierungsmittel für das alte Wirtschaftssystem und fügte weitere nachteilige Komponenten wie Schwarzmarkt und illegale Strukturen hinzu. Zudem stand Bosnien und Herzegowina nach dem Krieg einer doppelten Herausforderung gegenüber: materieller Wiederaufbau und gesellschaftliche Transformation zugleich, heißt die Aufgabenstellung.

Dieser späte Start bringt jedoch auch einen relativen Vorteil – Bosnien und Herzegowina kann auf den Erfahrungen der anderen Transitionsländer aufbauen. Auf diesen Erfahrungen basierend, begann Mitte der 90er Jahre ein Schwenk der Transformationstheorien weg vom sogenannten Washington-Konsens “stabilize – liberalize – privatize”, also, “Stabilisierung, Liberalisierung, Privatisierung”, hin zu einem mehr institutionellen Ansatz. Denn: Marktwirtschaft ohne funktionierende regulierende oder unterstützende Institutionen ist nicht möglich. Eine kompetente Zentralbank, ein funktionierender Kapitalmarkt, ein transparentes Zollsystem sowie Gesetze, die Investitionen fördern und Wirtschaftskriminalität verfolgen, sind unbedingt notwendige Komponenten für einen erfolgreichen Umbau aller Wirtschaftssysteme. In vielen ost- und südosteuropäischen Ländern fehlten diese Institutionen und Regulierungen und führten zu Verzögerungen in der Transformation.

Auch Bosnien und Herzegowina konnte in den ersten Nachkriegsjahren nur wenige Reformen umsetzen, die diesem neuen theoretischen Denken entsprochen hätten. Allerdings muß hier die Erfolgsgeschichte der Konvertiblen Mark angeführt werden. Die bosnisch-herzegowinische Zentralbank wurde am 11. August 1997 gegründet. Nach intensiven Vorbereitungen wurde Mitte 1998 die Konvertible Mark (abgekürzt BAM) als Zahlungsmittel eingeführt, die mittels eines Currency Boards 1:1 an die Deutsche Mark, respektive an den Euro, gebunden ist. Im Wettbewerb mit den anderen Währungen, kroatische Kuna und jugoslawischer Dinar, konnte sich die KM in den letzten zwei Jahren erfolgreich durchsetzen. Heute stellt die Konvertible Mark den Stabilitätsanker in Bosnien und Herzegowina dar, auf den sich Bevölkerung und Investoren verlassen können.

Das war ein erster wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. In einer Reformoffensive, die ich “funktionelle Integration” nennen möchte, sollen in vier Hauptbereichen in den nächsten 18 Monaten entscheidende Fortschritte erzielt werden.

  1. Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes in BiH
  2. Wachstum der Privatwirtschaft
  3. Privatisierung
  4. Kampf gegen Korruption

Diese vier Prioritäten gehen Hand in Hand mit dem Aufbau von staatlichen Institutionen.

Bosnien und Herzegowina ist zwar gemäß seiner Verfassung ein einheitlicher Wirtschaftsraum, in dem freier Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen garantiert ist. In der Praxis findet man aber noch immer viele Hindernisse, die im Kriegs entstanden sind. Landesweit geltende oder gleichlautende Regelungen sollen nun den einheitlichen Wirtschaftsraum vorantreiben, insbesondere in Bereichen wie Steuern, Zölle, industrielle Normen und Standards.

Ein besonderes Augenmerk der internationalen Gemeinschaft gilt den strategischen Industrien wie Telekommunikation, Energie, Transport und Medien. Regulierungsbehörden auf gesamtstaatlichem Niveau sollen diese Ebene stärken und gleichzeitig die Dreiteilung in diesen Sektoren zurückdrängen. Bosnien und Herzegowina hat zum Beispiel drei Mobiltelefonbetreiber, deren Netze regional voneinander getrennt sind, die europaweit die höchsten Gebühren kassieren und damit den Betreibern beträchtliche Monopolrenten sichern. Die staatliche Regulierungsbehörde wird landesweite Lizenzen einführen, um so einerseits Wettbewerb zu schaffen und andererseits die ethnische Trennung aufzuheben. Ein Strategiepapier für den Telekommunikationssektor soll in Kürze vom BiH-Ministerrat verabschiedet werden. Die Telekom-Regulierungsagentur (TRA) soll dadurch gestärkt werden. Die Entitäten werden verpflichtet, ihre jeweiligen Gesetze an das staatliche Telekommuniktionsgesetz anzupassen.

Im Elektrizitätsbereich wird nach EU-Muster vorgegangen: Die Trennung von Produzenten, Versorgern und Netzwerkbetreibern soll auch hier Wettbewerb schaffen und die im Vergleich mit anderen Ländern hohen Stromkosten insbesondere für Unternehmen reduzieren. Eine Regulierungsagentur soll auch hier einheitliche Bestimmungen für Bosnien und Herzegowina vorgeben.

Der zweite Reformbereich zielt auf eine Verbesserung des unternehmerischen Umfelds ab. Es wird keine Privatinvestitionen von Bedeutung geben, solange der Zahlungsverkehr nicht in transparenter Weise stattfindet, Steuerchaos vorherrscht, Unklarheiten über Eigentumsverhältnisse bestehen und Unternehmen durch überbordende Bürokratie behindert werden. Hier lautet die Devise “mehr privat – weniger Staat”; wobei “weniger Staat” diesfalls auf die Effizienz der staatlichen Verwaltung, auf die Forcierung des “public service”-Gedankens, abzielt.

Der Verbesserung des unternehmerischen Umfeldes dient auch die Abschaffung der sogenannten “Zahlungsbüros”. Diese soll bis Ende dieses Jahres abgeschlossen sein. “Zahlungsbüros” sind ein kommunistisches Überbleibsel und zwingen alle Geschäftsleute und öffentlichen Institutionen, Zahlungen über diese Monopolstelle abzuwickeln. Dabei werden gleichzeitig Steuern einbehalten. Vor dem Krieg hatte Bosnien und Herzegowina ein zentrales Zahlungsbüro, im Krieg zerfiel es in drei. Die drei Zahlungsbüros sind in nicht transparenter Weise mit den jeweiligen ethnisch-politischen Machtstrukturen verbunden und stellen eine Blockade für jede nachhaltige Entwicklung dar.

Die Aufgaben der Zahlungsbüros werden vom kommerziellen Bankensystem sowie von Finanzämtern nach westlichem Vorbild übernommen. In diesem Sommer haben die Reformen im Bankenbereich durch das Engagement ausländischer, insbesondere österreichischer, Banken, einen entscheidenden Impetus bekommen. Erstmals sehen sich die bosnisch-herzegowinischen Banken westlicher Konkurrenz ausgesetzt, und ich erwarte, daß die Strukturbereinigung im Bankenbereich beträchtlich an Momentum gewinnen wird. Die Bankaufsichtsbehörden der Entitäten wurden mit Hilfe von internationalen Experten auf ihre schwierige Aufgabe vorbereitet. Zur Stärkung dieser Behörde habe ich im Mai dieses Jahres eine Entscheidung betreffend die Immunität der Aufsichtsorgane erlassen. Die erstmalige Vergabe einer Banklizenz für eine Niederlassung einer Bank aus der Föderation in der RS im September 2000 hat den Grundstein für einen einheitlichen Bankenmarkt in Bosnien und Herzegowina gesetzt.

Eine umfassende Steuerreform steht ebenfalls hoch oben auf unserem Arbeitsprogramm. “Vereinfachung und Harmonisierung” sind hier die Zielsetzung, wobei zur Zeit das Augenmerk auf indirekte Steuern gelegt wird. Eine internationale Beratergruppe koordiniert mit den lokalen Stellen diese Steuerreform-Strategie. Weiters sollen die Finanzverwaltungen mittels einer integrierten Datenbank vernetzt werden – diese Datenbank wird der erste Schritt in Richtung einer gesamtstaatlichen Finanzverwaltung sein. Ab Beginn nächsten Jahres werden auf allen Ebenen (Staat, Entitäten, Kantone und Gemeinden) Treasuries (Schatzämter) installiert. Ein zentrales Kontosystem der Zentralbank wird erstmals eine transparente Übersicht über alle finanziellen Transaktionen des öffentlichen Sektors in Bosnien und Herzegowina geben können.

Weitere Gesetze sollen die Effizienz und Verläßlichkeit bestimmter öffentlicher Leistungen steigern. Neue Grundbuch- und Katastergesetze sollen in beiden Entitäten Eigentumsverhältnisse von Grund und Boden klarstellen. Zurzeit sind viele Kataster- und Grundbücher unvollständig oder wurden sogar im Zuge der “ethnischen Säuberungen” zerstört. Die neuen Gesetze sollen die Basis für einen funktionierenden Immobilien- und Grundstücksmarkt schaffen.

Die Privatisierung der staatlichen Betriebe, die unseren dritten Schwerpunkt im Wirtschaftsbereich darstellt, muß ebenfalls in den nächsten Monaten forciert werden. Die sogenannte “kleine” Privatisierung – wie der Name schon sagt – von Klein- und Mittelbetrieben und auch von staatseigenen Wohnungen, ist schon weit fortgeschritten. Nun muß die “große” Privatisierung in Angriff genommen werden. Um institutionelle Investoren nach Bosnien und Herzegowina zu bringen, setzen wir verstärkt auf Tenderprivatisierung. Internationale Berater werden bei einer Auswahl von 140 Firmen eine effiziente und transparente Durchführung der Privatisierung garantieren. Im Mittelpunkt steht nicht der bloße Übergang der Eigentümerschaft von Staat zu Privat, sondern das Ziel sind neues Kapital, neue Technologien und neue Management-Methoden. Nur so können die Firmen ihren Produktivitätsrückstand aufholen und neue Märkte erobern.

Die Voucher-Privatisierung für die Mehrheit der BiH Unternehmen läuft ebenfalls auf Hochtouren. Die Wertpapierkommissionen der beiden Entitäten haben bereits eine beträchtliche Anzahl von “PIF’s” (Privatization Investment Funds) lizensiert. Die PIF’s sammeln Vouchers, respektive Koupons, von der Bevölkerung und versuchen die lukrativsten Unternehmen damit zu kaufen. An der Einrichtung einer Börse für den Aktienhandel wird gearbeitet.

Der Kampf gegen die Korruption stellt den vierten Hauptpfeiler unserer Wirtschaftsstrategie dar. Korruption unterminiert die Demokratie, verschwendet öffentliche Ressourcen und behindert die Wirtschaftsentwicklung. Eine umfassende Anti-Korruptionsstrategie, die von meinem Büro erarbeitet worden ist, hat zum Ziel, die illegalen Machtstrukturen auszumerzen und einen Rechtsstaat westlichen Zuschnitts zu etablieren. Korruptions- und Betrugsfälle müssen konsequent vor die ordentlichen Gerichte gebracht werden. Eine Reform des Justizwesens und eine bessere Ausbildung und Bezahlung von Richtern und Anwälten sollen die Effizienz des Justizwesens steigern. Deshalb arbeitet mein Büro derzeit an der Errichtung der “Unabhängigen Justizkommission” (IJC). Die IJC ist im wesentlichen eine Initiative zur Professionalisierung und Reform der Gerichtsbarkeit in Bosnien und Herzegowina mit einem Zeitrahmen von etwa drei Jahren.

Schließlich darf die regionale Perspektive bei der Wirtschaftsentwicklung natürlich nicht außer acht gelassen werden. In diesem Zusammenhang stellen der Stabilitätspakt und die Stabilitäts- und Assoziationsabkommen der EU, für die sich Bosnien und Herzegowina hoffentlich bald qualifizieren wird, wichtige Initiativen dar.

Meine Damen und Herren,

ich hoffe, daß es mir gelungen ist, Ihnen einen Einblick in die komplexe und oftmals nicht sehr spektakulär anmutende Entwicklung Bosnien und Herzegowinas zu geben. Bosnien und Herzegowinas Zukunft als demokratischer und wirtschaftlich attraktiver Rechtsstaat ist kein Produkt reinen Wunschdenkens, keine “mission impossible”, sondern stellt eine gleichermaßen reale Möglichkeit wie politische Notwendigkeit dar. Die weitere Stärkung des Staates wird von Seiten der internationalen Gemeinschaft konsequent vorangetrieben. Ich bin überzeugt, daß die beschriebenen neuen staatlichen Institutionen und Regelmechanismen die Basis für wirtschaftlichen Fortschritt sicherstellen werden.

Aber wie ich zu Anfang gesagt habe: dieser Prozeß wird geraume Zeit in Anspruch nehmen und daher weiterhin beharrliches Engagement der Internationalen Gemeinschaft erfordern.

Ich danke der Schweiz für ihr exemplarisches Engagement und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!