18.05.2000 Berlin

Vortrag des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Wolfgang Petritsch,vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik

Bosnien und Herzegowina im 5. Jahr nach Dayton –
Ein Land mit europäischer Zukunft?

Berlin, Dienstag, 16. Mai 2000

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine Ehre und Freude, heute abend zu Ihnen sprechen zu dürfen und Ihnen meine Ansichten über den Stand des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina und die Zukunftsperspektiven dieses Landes darlegen zu können.

Um es gleich vorneweg zu sagen: Der Einsatz der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina tritt derzeit in eine neue Phase ein, die gekennzeichnet ist von dem Bemühen, die Bevölkerung stärker am Aufbauprozeß zu beteiligen, jedoch gleichzeitig eine robuste Vorgangsweise der internationalen Gemeinschaft in ausgesuchten strategischen Bereichen vorsieht.

Bevor ich mich jedoch der momentanen Situation zuwende, möchte ich kurz einen Überblick über den bisherigen Verlauf des internationalen Engagements geben und die grundlegenden Probleme skizzieren, die Bosnien und Herzegowina auf seinem Weg in europäische Strukturen – noch – behindern.

Wie Sie wissen, wurde das Daytoner Friedensabkommen 1995 nach mühsamen Verhandlungen erreicht. Es kam unter internationalem Druck zustande, gegen den erklärten Widerstand der Kriegsparteien, und noch heute erleben wir tagtäglich, daß die politischen Klassen der drei Volksgruppen, der Bosniaken, Serben und Kroaten in Bosnien und Herzegowina, ihren ehemaligen nationalistischen Kriegszielen und territorialen Aspirationen nachhängen. Im fünften Jahr nach der Vertragsunterzeichnung in Paris ist der ideologische Subtext des politischen Diskurses, wie auch des konkreten politischen Handelns immer noch durch einen ethnischen Exklusivitätsanspruch der Volksgruppen gekennzeichnet.

Wie äußert sich dies in den 3 Gruppen? Die politische Führung der moslemischen Bosniaken, die ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, leitet daraus den Anspruch ab, das Land zu dominieren.

Fast alle Parteien der bosnischen Serben haben sich noch immer nicht von der Idee einer praktisch souveränen serbischen Republik oder gar einer möglichen zukünftigen Vereinigung mit Serbien verabschiedet.

Schließlich die Kroaten: Da dominiert weiterhin die HDZ unangefochten die politische Szene unter den bosnischen Kroaten, obwohl sie im Januar dieses Jahres in Kroatien selbst eine vernichtende Wahlniederlage einstecken mußte. Sie hängt weiterhin dem Traum der Vereinigung mit Kraotien nach, obwohl dessen Erfüllung heute noch unwahrscheinlicher ist als vor den kroatischen Wahlen, die eine Abkehr vom territorialen und ethnischen Diskurs in Zagreb erbrachten. Das sollte nicht überraschen, ist doch häufig zu beobachten, daß die politische Peripherie (hier die Herzegowina) auf Ereignisse im (dort als solchem verstandenen) Zentrum vorerst mit Verunsicherung oder Radikalisierung reagiert. Das neue selbstbewußte Zagreb, mit frischer nationaler und internationaler Legitimität ausgestattet, wird in der defensiv gestimmten Herzegowina, wo man sich immer noch im Abwehrkampf versteht, bestenfalls nicht verstanden. Im schlechteren Fall sieht man nur Verräter an der nationalen Sache am Werke. Der Fortschritt in Kroatien selbst wird daher erst längerfristig auch in der traditionell extremistischen Herzegowina wirksam werden.

Meine Damen und Herren,

Das ist die eine Wirklichkeit in Bosnien, die Wirklichkeit, die von den herrschenden nationalistischen Parteien bestimmt wird. Ihre politischen Programme bestehen im Prinzip nur aus einem Punkt: das sogenannte “nationale Interesse” der eigenen Volksgruppe zu verteidigen. Alles, jedes Problem und jede Entscheidung, wird eine Frage dieses “nationalen Interesses” und der ethnischen Identität.

Dieses Phänomen bezeichnet die Politikwissenschaft als “identitäre Politik”, die unterschiedliche Interessen und Daseinsformen zu Fragen der Identität erklärt. Konflikte werden “unteilbar”, also nicht verhandelbar, und unterscheiden sich damit radikal vom demokratischen Apriori verhandelbarer Gegensätze, die als “teilbare”, das heißt kompromißfähige Konflikte aufgefaßt werden.

In den Ländern des ehemaligen Jugoslawien hat die identitäre Politik ihre in Europa bedeutsamste Ausformung seit dem Nationalsozialismus erfahren. Den Konflikten liegt die Ideologisierung gesellschaftlicher Probleme und ihre Aufladung mit ethnisch-nationalistischer Rhetorik von Territorialität und historischer Bestimmung zugrunde.

Der serbische Opfermythos ist allseits bekannt. Bei den Kroaten gibt es die Tendenz, sich mißverstanden und generell zu Höherem berufen zu fühlen. Die Bosniaken sind noch dabei, ihre Identität zu finden, aber aufgrund der Kriegsereignisse und von ihnen jedenfalls wahrgenommenen westlichen Vorbehalten gegen den Islam neigen sie ebenfalls dazu, sich ausschließlich in der Opferrolle zu sehen.

Identitäre Politik beruht auf einem holistischen Weltbild, einer mehrheitsfähigen Interpretation der Gegenwart, einem geschlossenen Koordinatensystem. In Serbien läßt sich diese Dynamik besonders gut beobachten. Wenn die Vorannahme vom serbischen Opferweg akzeptiert ist, wäre es geradezu widersinning, die NATO-Operation im Kosovo als eine Folge der Politik von Slobodan Milosevic zu interpretieren. Stattdessen wird eine historische Kontinuität konstruiert, in der wieder einmal das serbische Volk ausländischer Aggression zum Opfer gefallen ist.

In Bosnien und Herzegowina ist identitäre Politik nicht in dieser extremen Ausprägung vorhanden, aber trotzdem vorherrschend. Die Folge ist, daß die regierenden Parteien jede noch so einfache politische Routineentscheidung zu einer Frage des “nationalen”, das heißt hier übersetzt, “vitalen” Interesses der jeweiligen Volksgruppe hochstilisieren.

Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Im Augenblick sind wir dabei, einen gesamtstaatlichen Grenzschutz aufzubauen. Die serbischen Volksvertreter sträubten sich dagegen, und am Ende war ich gezwungen, das entsprechende Gesetz selbst zu erlassen. Der Grund war, daß die serbischen Abgeordneten den Grenzschutz als Bedrohung der vermeintlichen Unabhängigkeit der Serbischen Republik ansahen. Das heißt, Fragen der wachsenden illegalen Einwanderung oder des illegalen Transits durch Bosnien, des florierenden Schmuggels, der dadurch verlorenen beträchtlichen Zolleinnahmen waren zweitrangig – es ging um das nationalistische Ziel, die Unabhängigkeit der Republika Srpska zu wahren und die Befugnisse des Staates Bosnien und Herzegowina – ohnehin schwach ausgeprägt – weiter auf ein Minimum zu beschränken.

In der Tradition des Kommunismus, der in Bosnien noch immer die Denk- und Handlungsmuster bestimmt, durchdringt die Politik alle Sphären der Gesellschaft. Nun ist es nicht nur die Mitgliedschaft in der “richtigen” Partei, sondern auch die ethnische Zugehörigkeit, die über Arbeit, Verdienst oder Wohnung entscheidet.

Und natürlich leidet Bosnien und Herzegowina auch an all den anderen Problemen, an denen post-kommunistische Gesellschaften kranken: den Politikern fehlt ganz einfach das Verantwortungsbewusstsein, die Masse der Bürger fühlt sich machtlos und dem Staat ausgeliefert; eine Zivilgesellschaft ist erst in Ansätzen vorhanden.

Man muß aber auch die Veränderungen sehen: 1995 und 1996, als der Friedensprozeß begann, war identitäre Politik und das Denken in nationalistischen Kategorien noch viel ausgeprägter, und die Umsetzung der zivilen Bestimmungen des Daytoner Friedensabkommens kam nur mühsam voran.

Ein erster Durchbruch wurde erzielt, als die SFOR-Truppen 1997 begannen, die Umsetzung der zivilen Bestimmungen des Friedensabkommens aktiv zu unterstützen. Im Juli 1997 nahmen sie zum ersten Mal einen vom Tribunal in Den Haag angeklagten Kriegsverbrecher fest; heute sind es 18 mutmaßliche Kriegsverbrecher, die von SFOR-Truppen festgenommen und nach Den Haag überstellt worden sind.

Im September 1997 schalteten die SFOR-Truppen das hetzerische, gegen die Dayton-Implementierung gerichtete Propagandafernsehen der damaligen bosnisch-serbischen Führung in Pale aus. Und die internationalen Truppen begannen, bei der Flüchtlingsrückkehr mitzuhelfen, indem sie in Rückkehrgebieten für Ruhe und Ordnung sorgten. Damit hatte die Arbeit der zivilen Organisationen militärische Rückendeckung und wurde weitaus effektiver.

Ein weiterer wichtiger Wendepunkt im Friedensprozeß war die Konferenz des Friedensimplementierungsrates in Bonn im Dezember 1997. Dieser Rat besteht aus 55 Regierungen und Organisationen, die den Friedensprozeß lenken und unterstützen – entweder finanziell, über die Bereitstellung von Soldaten für die SFOR-Mission, oder als in Bosnien engagierte Akteure wie etwa die OSZE.

Bei dem Treffen in Bonn wurde der Hohe Repräsentant damit beauftragt, bosnisch-herzegowinische Politiker aus ihren Ämtern zu entfernen, wenn sie gegen die Bestimmungen des Daytoner Abkommens verstoßen. Gleichzeitig wurde ihm aufgetragen, selbst Gesetze zu oktroyieren, wenn die gesetzgebenden Organe in Bosnien ihren Pflichten nicht nachkommen. Die Vollmachten, die der Hohe Repräsentant laut dem Daytoner Abkommen hat, wurden in Bonn also weiter ausgeführt und entschlossener interpretiert.

Das gab dem Friedensprozeß einen neuen und wichtigen Impetus in einer wichtigen Phase des Aufbaus eines rudimentären Staatswesens, hat aber – auch das muß gesehen werden – längerfristig ein Abhängigkeitssyndrom erzeugt. Die lokale Führung begann, sich auf die politischen Interventionen des Hohen Repräsentanten zu verlassen. Sie konnte sich, wiewohl in der Regierung, gleichzeitig als Opposition gerieren. Die Internationale Gemeinschaft wurde immer tiefer auch in die kleinsten Probleme hineingezogen – beispielsweise zu entscheiden, welcher Seite ein Fußballfeld in einer Gemeinde gehörte bzw. am gerechtesten von beiden genutzt werden konnte. Und gleichzeitig wurde im vergangenen Jahr absehbar, daß die internationalen Geldmittel, die bisher nach Bosnien und Herzegowina geflossen waren, geringer werden würden – wegen des notwendigen Wiederaufbaus des Kosovo, des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, finanziellen Engpässen in den Geberländern und weil der Friedensprozeß schon eine beträchtliche Zeit in Anspruch genommen hatte.

Meine Damen und Herren,

das war also die Situation, die ich im vergangenen Sommer vorfand, als mir die Position des Hohen Repräsentanten übertragen wurde.

Es war zweifellos wieder Zeit für eine Neubewertung. Diese sah ich darin, daß die Internationale Gemeinschaft angesichts des veränderten Umfeldes ihre Bemühungen kritisch evaluieren und auf bestimmte Schwerpunktbereiche konzentrieren muß – auf strukturelle Probleme, deren Lösung neue, positive Entwicklungen in Gang setzen und die Rahmenbedingungen für einen europäisch orientierten Rechtsstaat schaffen kann.

Gleichzeitig sah ich auch die dringende Notwendigkeit, die einheimischen Politiker und Institutionen, auch und gerade die Bürger selbst zu mehr Selbstverantwortung aufzufordern.

Für dieses Konzept habe ich den aus der anglo-amerikanischen Gesellschaftstheorie stammenden Begriff ” ownership” übernommen. Die politischen Eliten und Bürger Bosnien und Herzegowinas müssen von ihrem Land und seinen Problemen sozusagen “Besitz” ergreifen, die Probleme annehmen und innerhalb der Parameter der bosnisch-herzegowinischen Realität nach Lösungen suchen. Oder, um im eingangs verwendeten Theorierahmen zu bleiben: Konflikte müssen teilbar, verhandelbar und vor Ort lösbar werden, Kompromißfähigkeit muß als politische Tugend begriffen werden.

Im Augenblick noch haben in den Köpfen der Politiker in Bosnien immer andere die Verantwortung für Bosnien und Herzegowinas Probleme – entweder die Internationale Gemeinschaft, oder die Gegenpartei, die “andere Seite”, die andere Volksgruppe.

“Ownership”, das Besitzergreifen von Problemen, oder am besten gesagt, die Eigenverantwortlichkeit, ist natürlich ein subtiler Prozeß, der grundlegendes Umdenken erfordert, lange Zeit in Anspruch nehmen wird und klar in den Kontext einer Zivilgesellschaft verweist.

Das Schlagwort von der Zivilgesellschaft wird derzeit in Europa viel bemüht, wenn die Weiterentwicklung unserer Gemeinwesen zur Debatte steht. In den ethnisch vielfältigen Staaten des Balkan setzt jedoch das längerfristige Überleben des Staates einen Sieg der Zivilgesellschaft über das ethnische Prinzip voraus. Der am Gemeinwohl interessierte Citoyen oder auch die Citoyenne, die sich erst in zweiter Linie und kulturell als Angehörige einer bestimmten Volksgruppe angehörig fühlt, ist Voraussetzung für eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaften des Balkan. Lassen Sie es mich einfach ausdrücken: Erst wenn es den Menschen möglich ist, sich beispielsweise gleichzeitig als bosnischer Staatsbürger serbischer Herkunft in einem vereinten Europa zu sehen, sind sie auch in Europa angekommen. Denn auch wir in EU-Europa benötigen diese vielschichtige Identitäten, um uns politisch und gesellschaftlich verorten zu können. Deswegen ist eine Lösung der Probleme des Balkan nicht über die künstliche Herstellung mono-ethnischer Staatsgebiete möglich, wie gelegentlich resignativ gefordert wird. Davon abgesehen ginge damit eine nachträgliche und auch aktuelle Legitimation der ethnischen Vertreibungen einher. Multiethnizität, und das müssen wir selbst oft erst verstehen lernen, ist nicht Teil des Problems, sondern seine Lösung.

In den Schwerpunktgebieten, auf die ich die Bemühungen der Internationalen Gemeinschaft im Augenblick konzentriere und lenke, sind dagegen konkrete Maßnahmen sofort erforderlich und möglich.

Diese Bereiche sind: erstens Wirtschaftsreformen, die es dem Land langfristig erlauben werden, sich wirtschaftlich selbst zu erhalten; zweitens Flüchtlingsrückkehr, um das tragische Problem der Vertreibungen und des Unrechtsgefühls endlich zu entschärfen; und drittens der Aufbau von Staatsinstitutionen, so daß Bosnien und Herzegowina nach innen und außen als selbständiger Staat auftreten kann.

Zuerst zur Wirtschaft. Die Notwendigkeit des Aufbaus einer gesunden Wirtschaft brauche ich hier nicht ausführlich zu erläutern. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, was zur Auswanderung qualifizierter Arbeitskräfte geführt hat und die Bevölkerung für nationalistische Rhetorik empfänglich macht.

Die vom Krieg zerstörte Infrastruktur des Landes – Straßen, Brücken, Flughäfen, die Wasser-, Strom- und Gasversorgung – ist mittlerweile mit internationaler Hilfe zu großen Teilen wiederaufgebaut worden.

Jetzt geht es darum, den Rahmen für die weitere Wirtschaftsentwicklung zu schaffen. Zuerst muß flächendeckend privatisiert und ein starkes und vertrauenswürdiges Bankensystem aufgebaut werden. Die Steuer- und die Sozialsysteme müssen reformiert werden. Alle Normen und Tarife der beiden Entitäten, der kroatisch-bosnischen Föderation und der Republika Srpska müssen harmonisiert werden, so daß Bosnien nach innen, aber auch nach außen hin einen einheitlichen Markt darstellt. Viele Wirtschaftsgesetze müssen überarbeitet oder überhaupt erst erlassen werden.

Das Ziel ist, Bosnien und Herzegowina für einheimische und ausländische Investitionen attraktiv zu machen, und solcherart das derzeit noch von internationaler Hilfe gespeiste Wirtschaftswachstum auf eine andere Basis zu stellen und langfristig zu erhalten.

Gleichzeitig sollte schon jetzt in die Zukunft gedacht werden. Vor dem Krieg gab es in Bosnien und Herzegowina viel Schwerindustrie: Stahl, Kohle, Waffen, Chemie, Energie. Abgesehen von dem Energiesektor, hat das alles nicht viel Zukunft, und es wäre widersinning, in diese Sektoren zu investieren.

Bosnien und Herzegowina müßte schon jetzt beginnen, auf Zukunftsbranchen zu setzen. Was ist im Bereich der Informationstechnologien möglich? Sollten wir nicht intensiv die Verbreitung des Internets fördern und Technologiespezialisten ausbilden? Wie kann Bosnien und Herzegowina im Bereich der Telekommunikation profitieren? Es gibt viele Möglichkeiten, und wir sollten die Bürger des Landes dazu auffordern, sich aktiv um die Verwirklichung chancenreicher Projekte zu bemühen.

Im Wirtschaftsbereich muß auch der Einfluß der Politik zurückgedrängt werden. Kürzlich hat die OSZE, die für die Durchführung von Wahlen und die Implementierung der Wahlergebnisse zuständig ist, in Absprache mit mir den Trägern öffentlicher Ämter verboten, gleichzeitig im Management oder Vorständen staatseigener Unternehmen zu sitzen. Aber auch bei der Privatisierung muß darauf geachtet werden, daß die Betriebe nicht wieder in die Hände der herrschenden Eliten fallen.

Nun zur Flüchtlingsrückkehr, meiner zweiten Priorität. Hier gibt es seit Beginn des Friedensprozesses schwere Probleme bei der Erfüllung des im Daytoner Abkommen zugesicherten Rechtes auf Rückkehr.

Wenn ich Flüchtlingsrückkehr sage, meine ich hauptsächlich die Rückkehr von Angehörigen einer Volksgruppe in Gebiete, die nun von einer anderen Volksgruppe kontrolliert werden. Diese bezeichnen wir als Minderheitenrückkehr. Sie ist schwierig aufgrund der psychologischen Folgen des Krieges, aber auch des Wunsches der herrschenden nationalistischen Parteien, sich ethnisch reine Gebiete zu erhalten.

Heute, fast fünf Jahre nach Kriegsende, gibt es noch immer 1,2 Millionen Flüchtlinge, von denen 800.000 als Vertriebene im eigenen Land leben – und das sind fast ausschließlich Menschen, die sich sozusagen in eine neue Minderheitensituation begeben würden, wenn sie in ihre Heimatorte zurückgingen. Diese Zahlen sind natürlich ein Armutszeugnis.

Während des Krieges wurden Gesetze in Kraft gesetzt, laut denen die Vertriebenen ihre Wohnungen, die natürlich im Staatsbesitz waren, und de facto auch ihr Privateigentum verloren hätten. Diese Gesetze und ihre Folgen sind unter internationalem Druck annulliert worden. Vor einem halben Jahr habe ich die Eigentumsgesetzgebung per Verfügung einerseits zwischen den beiden Entitäten vereinheitlicht und andererseits bis ins kleinste Detail ausdefiniert, sodaß keine Schlupflöcher für obstruierende Behörden mehr existieren.

Die neuen Eigentums- und Wohngesetze legen jetzt genau fest, wie die Behörden bei der Rückgabe der Wohnungen und des Privatbesitzes zu verfahren haben – was sie mit den derzeitigen Bewohnern machen müssen, wer Anspruch auf alternative Unterbringung hat, innerhalb welcher Fristen was zu geschehen hat.

Bei diesem Projekt handelt es sich um die Verwirklichung von grundlegenden Menschenrechten – um Zugang zum Recht, bedingungslos und unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Im Endeffekt handelt es sich jetzt um eine rein administrativ-technische Angelegenheit.

Überließe man es den dominierenden politischen Kräften in Bosnien und Herzegowina, darüber zu entscheiden, wer wann wohin zurückkehren kann, würden unteilbare Rechte als teilbar verhandelt, nach dem Motto: erst wenn alle Bosniaken zurückkehren dürfen, dürfen die Serben zurückkommen. Oder, aus serbischer Perspektive: unsere Leute wollen nicht zurück, also dürfen auch die Bosniaken nicht in die Serbische Republik zurückkehren.

Die Internationale Gemeinschaft setzt sehr viel Personal dafür ein, die Umsetzung der Eigentums- und Wohngesetze voranzutreiben. In jeder der rund 150 Gemeinden in Bosnien und Herzegowina gibt es einen internationalen Mitarbeiter, der sich damit befaßt. Ich habe mehr als zwanzig Amtsträger nur deswegen oder unter anderem deswegen abgesetzt, weil sie diese Gesetze obstruiert haben. Mittlerweile darf nach den Wahlregeln der OSZE auch niemand ein politisches Amt bekleiden, der in einer Wohnung oder einem Haus wohnt, das laut gerichtlichen oder administrativen Entscheidungen jemand anderem gehört.

Von der Umsetzung der Eigentums- und Wohngesetze sind rund 250.000 Familien oder eine Million Menschen betroffen. Eine weitere Zahl von mehreren Hunderttausend hat ihre Heime verloren, weil sie im Krieg zerstört wurden.

Während die Rückkehr von Minderheiten in zerstörte und verlassene Siedlungen bis vor kurzem ebenfalls schwierig war, ist – das aber erst seit kurzem – der offene politische Widerstand dagegen weitgehend verschwunden.

Seit Frühlingsanfang vergeht kein Tag, an dem nicht die Menschen, Angehörige der einen oder anderen Volksgruppe spontan irgendwohin zurückkehrt – vor allem in die östliche Serbische Republik, die Gegend um Foca, Visegrad, Zepa, bald auch Srebrenica, die bisher Hochburgen der serbischen Hardliner waren und sich der Rückkehr verweigert hatten.

Das stimmt vorsichtig optimistisch. Insgesamt gab es schon im vergangenen Jahr fast genauso viel Minderheitenrückkehr wie in all den vorhergegangenen Jahren – rund 80.000 Menschen kehrten zurück -, und die ersten Zahlen für dieses Jahr signalisieren eine weitere steile Aufwärtskurve für das Jahr 2000.

Noch eine Anmerkung zum Thema Flüchtlingsrückkehr: es handelt sich dabei um keine zwanghafte Wiederherstellung des multi-ethnischen Zusammenlebens vor dem Krieg. Es geht um die Verwirklichung des Rechtes jedes einzelnen Menschen, selbst darüber zu entscheiden, wo in seinem Land er leben möchte – ob er dort leben möchte, wohin der Krieg ihn verschlagen hat, oder ob er lieber nachhause zurückkehren würde.

Man muß den Tatsachen ins Auge sehen; ich glaube nicht, daß alle Vertriebenen in ihre ursprünglichen Heimatorte zurückkehren werden. Das kunterbunte und fast vorbehaltlose Zusammenleben, das es vor dem Krieg gab, ist nicht wiederherstellbar. Denn im Krieg sind schlimme Dinge passiert, und Vertrauen ist dauerhaft zerstört worden. Die meisten Flüchtlinge sind jetzt schon jahrelang entwurzelt – viele seit 1992, als der Krieg und die sogenannten ethnischen Säuberungen begannen -, und haben sich anderswo ein neues Leben aufgebaut.

Aber ich halte fest: Es wird von entscheidender Bedeutung sein, daß die Menschen Bosnien und Herzegowinas Recht – in diesem Fall Recht auf Rückkehr und Recht auf Eigentum – als eine unabhängige Kategorie und als garantierten Anspruch erfahren. Recht war im Kommunismus nicht unabhängig, und in der nationalistischen Kriegs- und Nachkriegsatmosphäre noch weniger. Die gegenteilige Erfahrung wird das Demokratieverständnis der Menschen ungemein stärken.

Nun zu meiner dritten Priorität, dem Aufbau eines funktionierenden Staatswesens. Bosnien und Herzegowina hat zwar paritätisch besetzte Staatsinstitutionen – beispielsweise die dreiköpfige Präsidentschaft, den Ministerrat, ein Staatsparlament -, aber sie funktionieren nach wie vor nur unzureichend. Die gemeinsamen Institutionen, wie sie genannt werden, sind gekennzeichnet von Ineffizienz und mangelndem Engagement für den Gesamtstaat. Kompromiß ist ein Fremdwort, und die Vertreter jeder der drei Volksgruppen verfolgen exklusiv nur ihre Ziele. Konflikte sind hier eben nicht verhandelbar und nicht durch Kompromisse zu lösen.

Einen wichtigen Impuls zur Lösung dieser Grund- und Überlebensfrage Bosnien und Herzegowinas sehe ich in der Annährung und schließlichen Integration des Staates in die europäischen Strukturen.

Die gesellschaftlichen Organisationsformen und Werte, die wir in Bosnien und Herzegowina propagieren – beispielsweise Rechtsstaatlichkeit, die Trennung der gesellschaftlichen Subsysteme Politik, Recht und Wirtschaft, die Einführung einer soziale Marktwirtschaft, die Erziehung der Bürger zu mehr Mündigkeit und kritischem Denken – sind europäisch.

Und den Menschen Bosnien und Herzegowinas, sogar den politischen Eliten, ist bewußt, daß ihr Land keine Zukunft hat, wenn es nicht den Anschluß an die europäischen Einigungsprozesse findet.

Die Gesetze Bosnien und Herzegowinas werden daher gemäß den europäischen Normen und Standards überarbeitet. Bosnien und Herzegowinas Mitgliedschaft im Europarat steht an – aber nur, wenn es eine Reihe von notwendigen Vorbedingungen bei der Erfüllung von Menschenrechten und dem Aufbau eines unabhängigen Rechtswesens erfüllt. Auch die Europäische Union hat kürzlich Bedingungen formuliert, die sogenannte “road map”. Sie soll zur politischen und wirtschaftlichen Annäherung Bosnien und Herzegowinas an die EU führen.

Um Mitglied der europäischen Familie zu werden, müssen natürlich auch die gesamtstaatlichen Organe Bosnien und Herzegowinas besser funktionieren, so daß das Land nach außen hin als ein Staat auftreten kann.

Wir bemühen uns, die gesamtstaatlichen Organe zu stärken, und damit eine bessere Positionierung Bosniens im internationalen Kontext zu erreichen. Das beginnt damit, daß internationale Kredite oder die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen an bestimmte Bedingungen geknüpft werden, und hört damit auf, daß wir planen, einen öffentlichen Dienst nach europäischem Vorbild einzurichten – also einen politisch unabhängigen “civil service”.

Daneben denken wir auch darüber nach, dem Staat Direkteinnahmen zu ermöglichen. Bisher fließen alle Einnahmen in die Kassen der Entitätsregierungen, die dann Transfers an den Staatshaushalt leisten. Das überläßt den Staat als solchen der Gnade oder Ungnade der Entitäten und läßt ihn auf Dauer verkümmern.

Gleichzeitig verhindert diese Übermacht der Entitäten, daß die Bürger Bosnien und Herzegowinas sich als Bürger des Staates Bosnien und Herzegowinas verstehen. Die Entitäten leisten alle Dienste an den Bürger, die in anderen Ländern der Staat leistet. Sie sind für Renten, die Gesundheitsversorgung, die Erziehung und Schulausbildung, usw., zuständig. Das muß sich graduell ändern, denn ohne eine Identifikation der Bürger mit ihrem Staat kann es langfristig diesen Staat nicht geben. Dazu muß er seine Notwendigkeit auch konkret erfahrbar machen.

Europas Rolle bei der bosnisch-herzegowinischen Staatsbildung ist von ungemeiner Bedeutung, und ich bin sowohl der EU als auch allen anderen europäischen Organisationen, wie dem Europarat, dankbar, daß sie sich des Landes angenommen haben.

Meine Damen und Herren,

Bosnien und Herzegowina ist natürlich nicht isoliert zu sehen. Im Gegenteil, der regionale Kontext ist für den Erfolg unserer Bemühungen von vorrangiger Bedeutung. Wenn es nicht zu einem demokratischen Umschwung in Serbien (und einer wahrhaften Demokratisierung Kroatiens) kommt, wird das Projekt Bosnien und Herzegowina nicht gelingen.

In diesem Zusammenhang ist der Stabilitätspakt für Südosteuropa wichtig. Er stellt den ersten ernsthaften Versuch der EU dar, aus der Abfolge von Krisen und Kriegen auf dem Balkan auszubrechen und eine vorausschauende und umfassende Antwort zu geben.

Seine Schaffung war fast eine logische Folge der davorliegenden Ereignisse. Stand am Anfang des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens noch eine zerstrittene Europäische Gemeinschaft, die sich von den USA schulmeistern lassen mußte, war die EU bei den Versuchen, den Kosovo-Konflikt auf dem Verhandlungswege zu lösen schon ziemlich gleichberechtigter Partner.

Der Stabilitätspakt schließlich, der von Deutschland während seiner EU-Präsidentschaft initiiert wurde, stellt einen wirklichen Versuch dar, auf die Probleme des Balkans eine europäische Antwort unter sinnvoller Einbeziehung der USA und Rußlands zu finden. Zwar bedarf es noch weiterer Konkretisierungen und wirklicher Taten – aber die neue Stabilitäts- und Assoziationspolitik der EU ist in diesem Zusammenhang ermutigend.

Meine Damen und Herren,

ich werde jetzt langsam zum Schluß kommen, so daß wir noch Zeit für eine Diskussion haben. Was ich darstellen wollte, ist einerseits der Weg, den die Internationale Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, aber auch in der gesamten Region beschreiten und zu Ende gehen muß, wenn wir den Balkan dauerhaft stabilisieren wollen.

Daß die IG so erfolglos nicht ist, daß sich die Mühen der Ebene lohnen, zeigt die Entwicklung in Kroatien, zeigen aber nicht zuletzt auch die jüngsten Wahlergebnisse in Bosnien. Die Resultate der Gemeindewahlen im April in Bosnien und Herzegowina sind in der Tat ermutigend. Sie zeigen, daß es einen Trend gibt weg von den leeren Versprechungen der herrschenden nationalistischen Parteien, hin zu Parteien, die sich der wirklichen Problemen und Sorgen der Bevölkerung annehmen wollen. In vielen bosniakischen Städten, u.a. Sarajewo, hat die Sozialdemokratische Partei die Führung übernommen. In jeder Gemeinde in der Serbischen Republik gibt es jetzt Reformkräfte in den Stadträten. Und bei den bosnischen Kroaten, deren Parteienlandschaft sehr monoton ist, war die Wahlbeteiligung auffallend niedrig, was schwindende Unterstützung für die führende HDZ signalisiert.

Es wird noch lange dauern, bis die identitäre Politik und der Nationalismus in Bosnien und Herzegowina besiegt sein werden, aber ihr Ende ist absehbar. Wir müssen uns bewußt sein, daß Bosnien und Herzegowina das historische und politische Kernland des Balkans ist. Wenn es uns gelingt, die drei Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina miteinander zu versöhnen – indem wir ihnen beim Aufbau einer modernen Wirtschaft, eines funktionierenden Staatswesens und eines unabhängigen Rechtssystems helfen – ist Ähnliches für den gesamten Balkan möglich.

Umgekehrt wäre der Preis des Scheiterns dementsprechend hoch. Wenn wir in Bosnien und Herzegowina versagen, könnten die Gesellschaften des Balkan zurückfallen in die Klanstrukturen des 19. Jahrhunderts. Dann aber wäre das Südosteuropa des 21. Jahrhunderts ein atomisiertes Geflecht von ethnisch-reinen Ministaaten oder Duodezfürstentümern. Das wäre eine katastrophale Entwicklung, die den europäischen Einigungsprozeß im Westen in Frage stellen und Europa auseinanderreißen könnte. Deshalb muß es uns gelingen, den Frieden in Bosnien und Herzegowina dauerhaft zu sichern.

Vielen Dank für’s Zuhören.

Passage zur Eurozone (für die Diskussion)

Europa muß sich Bosnien und Herzegowina und all den anderen Staaten der Region öffnen, und hier sehe ich viele Möglichkeiten vor einer EU-Vollmitgliedschaft.

Eine Idee, die ich hier vortragen möchte, ist die Schaffung einer Eurozone in Südosteuropa. Die bosnisch-herzegowinische Währung, die Konvertible Mark, ist an die DM gebunden und zu hundert Prozent durch DM-Bestände der Zentralbank gedeckt. Montenegro hat die DM als Parallelwährung eingeführt. Im Kosovo wurde sie vom UN-Verwalter Kouchner als Zahlungsmittel bestimmt. In fast allen anderen Staaten der Region – inklusive Serbien – ist sie das inoffizielle Zahlungsmittel und die Währung, in der gespart wird.

Diese Situation ließe sich formalisieren und institutionalisieren. Den Staaten wäre eine Mitgliedschaft in der Europäischen Zentralbank aufgrund ihrer Wirtschaftssituation verwehrt, aber erlaubt, den Euro als offizielles Zahlungsmittel zu verwenden – entweder, indem sie ihn mit harten Währungen kaufen oder indem sie ihn mit entsprechenden Reserven in harten Währungen decken.

Die offizielle Verwendung des Euros als Zahlungsmittel wäre an bestimmte Bedingungen geknüpft, beispielsweise den Aufbau eines modernen Bankensystems frei von parteipolitischer Einflußnahme oder der Entpolitisierung der Wirtschaft. Gleichzeitig würde die Eurozone zu einer wirtschaftlichen Annäherung der Staaten untereinander und an Europa führen.